Ökonomie: Warum das Leben wirklich immer teurer wird, obwohl die Inflation niedrig ist
von Häring, Norbert
Viele Menschen nehmen die Teuerung stärker wahr als sie tatsächlich gemessen wird.
Ein US-Institut zeigt: Die Bevölkerung irrt sich darin nicht.
Die Wahrnehmung der Bevölkerung und die Zahlen der Statistik liegen selten so weit auseinander wie bei der Teuerung. Nach einer Analyse der Europäischen Zentralbank (EZB) aus dem Jahr 2017 auf Basis von EU-weiten Umfragedaten veranschlagen normale Menschen die Preissteigerungsrate der Vergangenheit höher als die Statistik. In Deutschland war der Unterschied mit fünf Prozentpunkten für den Zeitraum von 2004 bis 2015 sogar noch unterdurchschnittlich.
Es scheint nicht an völligem Unwissen der Befragten zu liegen. Die Angaben zur Teuerungsrate lagen zwar weit oberhalb der offiziell gemessenen Inflation, bewegten sich aber im Zeitablauf in relativ engem Gleichlauf mit dieser nach oben und unten.
Ökonomen erklärten das Überschießen der Inflationswahrnehmung bisher vor allem damit, dass gerade Produkte, die man öfter kauft und deren Preisveränderungen man dadurch besonders stark wahrnimmt, teurer werden. Doch die EZB-Analyse zeigt, dass das nur einen kleinen Bruchteil der Abweichungen erklären kann.
Oren Cass, Chef des neu gegründeten Instituts American Compass, das sich hierzulande wohl wertkonservativ nennen würde, bietet in einer Analyse eine andere Erklärung. Die Menschen haben demnach etwas anderes im Sinn als die Statistiker, wenn sie nach den Lebenshaltungskosten gefragt werden. Sie interessierten sich dafür, was es kostet, ein Leben zu führen, wie es in der eigenen sozialen Schicht die Norm ist. Dafür gibt es bisher keine Messlatte. Dem will Cass mit einem neuen Index abhelfen, nach dem er seinen Aufsatz benannt hat: „The Cost of Thriving Index“.
Dieser „Kosten-des-Gedeihens-Index“ soll die Kosten eines normalen Mittelklasselebens messen. Cass beschränkt sich zur Vereinfachung auf große Ausgabenposten für Dinge, die für den sozialen Status wichtig sind: Miete für ein Haus, ein Auto, ein halbes Jahr College-Kosten und Krankenversicherung für die Familie, jeweils auf einem für die untere bis mittlere Mittelklasse typischen Niveau. Für den langfristigen Vergleich wählt er als Einheit das Median-Wochengehalt eines männlichen Arbeitnehmers. Das ist das Gehalt, bei dem jeweils die Hälfte der Arbeitnehmer mehr und weniger verdient.
Kosten vervierfacht
Das Ergebnis ist beeindruckend. Nach den üblichen Inflationsindizes konnte man sich mit dem mittleren Gehalt eines erwachsenen männlichen Vollzeitbeschäftigten des Jahres 2018 laut Cass bis zu zehn Prozent mehr kaufen als vor rund vier Jahrzehnten. Das ist nicht viel, aber immerhin ein Wohlstandsgewinn.
Cass aber stellt fest, dass sich die Kosten der von ihm ausgewählten Grundzutaten für ein Mittelklasseleben von 13.200 Dollar auf 54 .400 Dollar vervierfacht haben. Der Median-Wochenlohn eines erwachsenen vollzeitbeschäftigten Mannes stieg dagegen im selben Zeitraum nach seinen Berechnungen nur auf das Zweieinhalbfache. Konnte der Durchschnittsmann 1985 mit 30 Wochen Arbeit die Grundausstattung eines Mittelklasselebens für eine vierköpfige Familie finanzieren, muss er heute dafür schon 53 Wochen arbeiten, mehr als das Jahr Wochen hat.
„Die sich öffnende Schere zwischen dem, was der American Way of Life kostet, und dem, was amerikanische Arbeitnehmer verdienen, ist eine zentrale Tatsache der politischen Ökonomie der USA“, diagnostiziert Cass, „eine, die die Öffentlichkeit offenbar lange vor den Ökonomen verstanden hat.“
Aber woran liegt es, dass diese massive Verteuerung in der offiziellen Inflation nicht sichtbar wird? Entgegen der streng individualistischen Sichtweise der Inflationsmessung geht Cass von sozialen Wesen aus, deren Nutzen sich aus dem Vergleich und der Interaktion mit anderen ableitet. Die offizielle Inflationsmessung fragt, was es mehr kostet, die Güter zu kaufen, die für ein konstantes Nutzenniveau eines selbstbezogenen, konsumorientierten Menschen nötig sind.
Über den Grundkonsens der Ökonomen, dass man Nutzen weder messen noch vergleichen kann, hilft man sich mit freihändigen Annahmen hinweg. So wird angenommen, dass ein Computer mit doppelter Rechenleistung doppelt so viel Nutzen bringt. Ist ein neuer Fernseher so gut wie ein Spitzenmodell früherer Jahre, das doppelt so viel kostete, dann wird das wie eine Preissenkung um 50 Prozent behandelt.
In der Sichtweise von Cass dagegen bietet ein Fernseher von vor 20 Jahren heute einen viel geringeren Nutzen als damals, weil man damit keine Super-Bowl-Party für seine Freunde bestreiten könne. Mit einem alten Computer kann man kaum noch mit anderen in Austausch treten, weil aktuelle Programme darauf nicht mehr laufen.
Es klemmt beim Budget
Will eine Familie ihren sozialen Status bewahren, muss das Budget reichen, um all die verbesserten Produkte zu kaufen. Cass macht diesen Punkt am Beispiel Auto deutlich. Nach offizieller Inflationsmessung gebe es keine Inflation.
Ein neues Auto kostete 2018 laut Statistik nicht mehr als 1996. Tatsächlich kostete das Grundmodell des Toyota-Camry-Viertürers 2018 mit 23.600 Dollar rund 40 Prozent mehr als 1996. Die Statistik führt das alles auf bessere Ausstattung und Qualität zurück, also keine Inflation. Aber den Camry in der damaligen Grundausstattung für 16.800 Dollar gibt es nicht mehr zu kaufen. Die knapp 8000 Dollar extra für mehr Zubehör und bessere Qualität muss man irgendwo hernehmen.
Die Reaktionen auf den Aufsatz von Cass machen deutlich, wie werturteilsbeladen die scheinbar so objektive Inflationsmessung tatsächlich ist. Scott Winship, vom marktliberal-konservativen Manhattan Institute of Public Policy, kritisiert den Beitrag aus der individualistischen Sichtweise, die der offiziellen Inflationsmessung zugrunde liegt.
Die Menschen seien frei, mehr von dem einen und weniger von dem anderen Gut zu kaufen, wenn es mit dem Budget hakt. Man könne gebrauchte Fernseher und Autos kaufen, um die theoretische Preisminderung tatsächlich zu realisieren. Da ein Haus im unteren Marktsegment heute besser sei als eines im mittleren vor 40 Jahren, könne man ein solches mieten, ohne sich gegenüber früher zu verschlechtern und ohne sein Budget zu sprengen. Dass man sich mit einer Unterschicht-Behausung kaum der Mittelschicht zugehörig fühlen kann, blendet er aus.
Dass Cass eine Familie zum Maßstab nimmt, ist für Winship nicht zwingend, weil immer mehr Menschen es sich leisten könnten, allein zu leben. Vor allem aber verdienten heutzutage die meisten Frauen, sodass ein Gehalt nicht für die ganze Familie reichen müsse. Das zusätzliche Einkommen sei der Hauptgrund, warum die Mittelschichtfamilien sich heute ein teureres Leben leisteten.
Diese Diagnose ist überzeugend. Aber es gibt ein Problem mit der Annahme der Statistik, dass dies ein Ausfluss der individuellen Nutzenmaximierung ist. Das würde bedeuten, dass die Beteiligten ihren Nutzen steigern. Dem widerspricht das „Paradox of Declining Female Happiness“, wie es ein Fachaufsatz nennt, die Tatsache, dass die Lebenszufriedenheit US-amerikanischer Frauen im Zuge der Integration in den Arbeitsmarkt gesunken ist. Möglicherweise sind viele Mütter aus der von Cass beschriebenen sozialen Notwendigkeit in den Arbeitsmarkt eingetreten und mussten dadurch Nutzeneinbußen hinnehmen.